Polizeimeister Kaspar

Irgendwann im Sommer 1933 kam Polizeimeister Kaspar vom 4. Polizeirevier in unsere Wohnung. Das war nichts Ungewöhnliches, denn wir wohnten schon viele Jahre in der Kaiserhofstraße und kannten den Polizeimeister gut. Er kam öfters, wie das früher üblich war, in dienstlicher Eigenschaft in die Wohnungen seines Reviers, wenn ein Bescheid zugestellt, ein Formular ausgefüllt oder etwas unterschrieben werden mußte. In der Regel blieb er dabei auf dem Treppenflur stehen, doch diesmal ging er mit Mama in das vordere Zimmer, das wir an den jüdischen Vertreter vermietet hatten, der die meiste Zeit nicht zu Hause war. Sie schlossen die Tür hinter sich und flüsterten so leise miteinander, daß ich nichts verstehen konnte. Als Kaspar dann ging, war Mama sehr aufgeregt.

Erst viel später erfuhr ich, was er meiner Mutter so geheimnisvoll mitgeteilt hatte. Die Staatspolizei habe alle Einwohnermeldeämter, das waren die Polizeireviere, angewiesen, eine Liste der Personen zusammenzustellen, deren Religion in der Einwohnerkartei mit »mosaisch« angegeben sei. Damit wollte man auch noch die letzten Juden erfassen, die in Frankfurt lebten und nicht der Israelitischen Gemeinde angehörten. Der Polizeimeister mußte also gewußt haben, vielleicht hatte es ihm Mama einmal erzählt, daß sie und Papa schon Vorjahren aus der Gemeinde ausgetreten waren.

Noch ahnte niemand, sogar Polizeimeister Kaspar nicht, trotz seiner großen Besorgnis, daß die Anfertigung dieser Judenlisten, in die später, nach dem Inkrafttreten der Rassengesetze, auch alle »Halb-« und »Vierteljuden« aufgenommen wurden, erste vorbereitende Maßnahmen für die »Endlösung der Judenfrage« waren.

Nachdem Kaspar das mit der Judenliste Mama berichtet hatte, fragte er, ob wir die Absicht hätten, in nächster Zeit Deutschland zu verlassen. Mama verneinte das mit der plausiblen Erklärung, daß man dazu ja Geld brauche.

 

In diesen ersten Jahren der Hitlerherrschaft emigrierten, sieht man von den politisch Verfolgten ab, meist nur wohlhabende Juden, die nicht nur genügend Geld hatten, um einen Umzug ins Ausland finanzieren zu können, sondern darüber hinaus die notwendigen Mittel zum Aufbau einer neuen Existenz.

Zu denen, die beizeiten Deutschland verlassen konnten, gehörte auch die Familie des Metzgermeisters Emil Soostmann, unseres Hausbesitzers. Sie machten ihre Habe, soweit das noch ging, zu Geld und emigrierten nach Frankreich, Herr und Frau Soostmann und ihre drei erwachsenen Kinder.

Ein halbes Jahr später kam der älteste Sohn, der achtundzwanzigjährige Kurt, heimlich und für uns alle überraschend nach Frankfurt zurück. Er wollte nur kurze Zeit hierbleiben. Der Grund für seine Rückkehr war, daß man bei dem überstürzten Aufbruch nach Frankreich ein Safe bei einer Frankfurter Bank, in dem sich Aktien und andere Wertpapiere befanden, regelrecht vergessen hatte. Kurt Soostmann wurde noch in der Bank verhaftet. Die Staatspolizei hatte das Safe längst entdeckt. Man machte ihm nicht einmal einen Prozeß, sondern schaffte ihn sofort in ein Konzentrationslager. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört. Die übrige Familie Soostmann wanderte nach dem Überfall deutscher Truppen auf Frankreich in die Vereinigten Staaten aus.

 

Einige Tage nach seinem ersten Besuch kam Polizeimeister Kaspar wieder in unsere Wohnung, und es gab noch einmal ein Gespräch mit Mama hinter verschlossener Tür. Er sagte, er habe sich erkundigt und glaube zu wissen, daß es uns bald sehr schlecht ergehe, wenn wir in die Judenliste der Staatspolizei aufgenommen würden. Man munkele, in Kürze müßten die Juden erheblich mehr Steuern zahlen als die Arier, außerdem wolle man sie in geschlossene Wohnviertel umsetzen. Weitere, vielleicht noch strengere Maßnahmen seien in Vorbereitung. Wir brauchten uns aber keine Sorgen zu machen, fuhr er fort, für uns gelte das nicht, denn er habe nach langem Überlegen unsere Familie nicht in die Judenliste aufgenommen. Auf Mamas Frage, wie das möglich sei, ohne daß ihm daraus größere Schwierigkeiten entstünden, erklärte Kaspar, er habe einfach unsere Karte in der Meldekartei abgeändert und aus »mosaisch« »Dissident« gemacht. Er beschwor Mama, von nun an dürfe sie sich nirgendwo mehr als jüdisch bezeichnen. Wann immer sie ein behördliches Formular auszufüllen habe - er wußte ja, daß das in unserer Familie allein Mama machte -, müsse sie künftig, wenn nach der Religionszugehörigkeit gefragt werde, »Dissident« oder »religionslos« schreiben. Und das gelte für die ganze Familie.

Bevor sich Polizeimeister Kaspar verabschiedete, gab er meiner Mutter noch zu verstehen, daß auch er in große Verlegenheit käme, wenn bekannt würde, daß mit unserer Abstammung etwas nicht in Ordnung sei.

Man könnte mit Recht fragen, was den Polizeimeister Kaspar veranlaßt hat, eine so riskante Korrektur an unserer Einwohnermeldekarte vorzunehmen. Ich weiß es, bei Gott, nicht. Er tat es einfach. Er hatte keine näheren oder gar freundschaftlichen Beziehungen zu uns, kannte unsere Familie nur durch seine dienstlichen Aufgaben und war außerhalb der Dienstzeit nie mit uns zusammengekommen. Möglicherweise war er über die politische Einstellung meiner Eltern informiert, aber kein einziges Mal hat er darüber ein Wort verloren, und es ist auch kaum anzunehmen, daß ihm die politischen Gruppierungen, für die sich Mama engagierte, besonders sympathisch waren. Ich habe die von ihm veränderte Meldekarte mit dem durchgestrichenen »mosaisch« und dem daruntergesetzten »Dissident« selbst gesehen. Es waren viele Eintragungen und Veränderungen auf ihr verzeichnet, wie sich eben eine Familie in zwanzig Jahren polizeibehördlich verändert, und auf der rechten Seite war die Religionszugehörigkeit handschriftlich korrigiert.

Aber Polizeimeister Kaspar ging noch einen Schritt weiter. Als 1935 die sogenannten Nürnberger Gesetze, das »Reichsbürgergesetz« und das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« mit einem gewaltigen Agitationsaufwand verabschiedet wurden und die Pogromstimmung einem gefährlichen Höhepunkt entgegentrieb, war ihm die Korrektur in der Meldekartei nicht mehr sicher genug. Möglicherweise befürchtete er, ein übereifriger Kollege könne, durch die Korrektur mißtrauisch gemacht, Nachforschungen über unsere Familie anstellen. So vernichtete er kurzerhand die alte Meldekarte und stellte eine neue aus. Er sagte uns aber nichts davon. Erst als unsere Aufenthaltsgenehmigung verlängert werden mußte, bemerkte Mama, daß eine neue Einwohnermeldekarte angelegt worden war.

Auch eine spätere Begebenheit hätte Polizeimeister Kaspar, von dem mir nur noch seine etwas polternde Art und sein militärisch kurzer Haarschnitt in Erinnerung geblieben sind, leicht zum Verhängnis werden können.

Es war im Spätsommer 1937. In der Menschenschlange vor dem Küchenschalter im Haus der Jüdischen Fürsorge in der Königswarterstraße stand Papa und wartete, daß man ihm in den mitgebrachten dreistöckigen Essentender das Mittagessen einfülle. Seit sechs Jahren war er arbeitslos, und wir wurden in dieser Zeit von der Jüdischen Fürsorge mit kleinen Geldbeträgen, fast kostenlosem Mittagstisch für die ganze Familie, Kohlen im Winter, Schuhen und Kleidungsstücken unterstützt.

Die wenigen Räume waren überfüllt, alle Tische in dem kleinen Eßsaal besetzt, die Schlange vor dem Schalter reichte bis zur Tür. Plötzlich war lautes Geschrei auf den Gängen, Türen wurden aufgerissen und von allen Seiten drängten SA-Leute in den Eßsaal. Einer postierte sich breitbeinig im Mittelgang und rief: »Jeder bleibt auf seinem Platz! Ausweiskontrolle!« Die SA-Männer gingen durch die Bankreihen und an der Menschenschlange vor dem Ausgabeschalter entlang und prüften sorgfältig Ausweis für Ausweis.

Als Papa an der Reihe war, hielt er dem SA-Mann seinen Fremdenpaß hin. Der blätterte ihn auf, stutzte, schaute Papa an, blätterte noch einmal nach hinten, klappte den Paß zu und steckte ihn in die Tasche. Er müsse den Paß überprüfen lassen, sagte er. Wenn er in Ordnung sei, könne mein Vater ihn in den nächsten Tagen auf dem Polizeirevier wieder abholen. Offenbar hatten »staatenlos« und »Fremdenpaß« den SA-Mann irritiert, und er war mißtrauisch geworden.

Der SA-Trupp zog endlich ab. Mehrere Juden, die keine Ausweispapiere bei sich hatten, wurden mitgenommen. Zu Hause erzählte Papa nichts von der Razzia, erst recht nichts davon, daß der SA-Mann seinen Paß einbehalten hatte. Er befürchtete, Mama könne sich zu sehr aufregen, da ihr Herz schon sehr krank war. Sie hatte oft genug gesagt, wir sollten endlich damit aufhören, das Essen zu holen, es werde von Monat zu Monat gefährlicher, sich in der Jüdischen Fürsorge blicken zu lassen. Aber Papa zögerte. Er machte einen Zwanzigminutenmarsch, um einen Laib Brot zwei Pfennige billiger zu kaufen, und eilte jeden Abend wenige Minuten vor Ladenschluß in die Gemüseabteilung vom Kaufhaus Tietz an der Hauptwache, weil dann die leicht verderbliche Ware im Preis herabgesetzt wurde. Für ihn waren die zwei Portionen Essen aus der Jüdischen Fürsorgeküche, von denen seine fünfköpfige Familie satt wurde, eine notwendige Entlastung des Arbeitslosenhaushalts.

Doch sehr schnell sollte Mama erfahren, was sich in der Jüdischen Fürsorge abgespielt hatte. Am anderen Tag gegen Abend schellte es an der Wohnungstür. Mama ging öffnen. Polizeimeister Kaspar, zornig, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, stand in der Tür und fragte schroff: »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Frau Senger?« Mama bat ihn herein.

Er war schrecklich wütend, vergaß jegliche Vorsicht und wurde so laut, daß Papa, Paula und ich hinter der Verbindungstür des angrenzenden Zimmers jedes Wort verstehen konnten. Wir seien wohl wahnsinnig geworden, schimpfte er. Was wir denn bei der Jüdischen Fürsorge noch verloren hätten? Ob wir so ahnungslos oder nur dumm seien. Ob wir nicht wüßten, was die Stunde geschlagen habe. Er wurde etwas ruhiger. Wenn wir schon so unvernünftig seien, uns selbst in Gefahr zu bringen wegen eines lumpigen Tellers Suppe, ob wir nicht daran dächten, daß wir auch ihn in den Schlamassel mit hineinziehen würden. Von Rücksichtslosigkeit sprach er noch und davon, daß wir das Vertrauen derer mißbrauchen würden, die es gut mit uns meinten.

Mit bleichen Gesichtern lauschten Paula und ich an der Verbindungstür. Papa ging im Zimmer auf und ab und knetete vor Erregung mit einer Hand die andere. Polizeimeister Kaspar berichtete nun meiner Mutter, einige Stunden zuvor sei von der Staatspolizeistelle in Frankfurt Papas Paß ins Revier geschickt worden mit der Anweisung, den Paßinhaber zu überprüfen und, falls irgendetwas in den Papieren nicht in Ordnung sei, sofort Meldung zu machen. Es sei reiner Zufall gewesen, sagte er, daß ausgerechnet er den Paß von dem Boten erhielt, weil der Reviervorsteher gerade außer Haus war und er ihn vertrat. »Was haben Sie dazu zu sagen?« wollte Kaspar wissen. Aber Mama hatte nichts zu sagen. »Können Sie sich vorstellen, was passiert wäre, wenn ein anderer den Paß in die Finger bekommen hätte?« Mama schwieg. »Ich hoffe nur, keiner meiner Kollegen hat bemerkt, daß ich den Paß verschwinden ließ«, fuhr Kaspar fort. »Hier, nehmen Sie ihn!« Dann ging er.

Seit dem Tag verzichtete Papa darauf, das Mittagessen bei der Jüdischen Fürsorge zu holen - von nun an schickte er meinen Bruder Alex. Dieses Verhalten scheint an Wahnwitz zu grenzen, und ich bin außerstande zu sagen, wer dafür verantwortlich war, Mama oder Papa oder beide zusammen, ich weiß nur, daß Papa erzählte, bei der Razzia seien ausschließlich die Erwachsenen, nicht aber die Kinder kontrolliert worden, und darum ließen sie noch mehrere Wochen lang den zwölfjährigen Alex das Essen holen.

Und doch ist diese unverständliche Leichtfertigkeit meiner Eltern, die Mißachtung oder Verkennung der tödlichen Gefahr nicht außergewöhnlich. Kurt Soostmann wurde sie zum Verhängnis und vielen anderen Juden und auch dem Börsenmakler Oppenheimer aus Nummer 19 in unserer Straße. Er wohnte später in der Uhlandstraße, hielt Hitler für einen großen Staatsmann und weigerte sich bis zu seinem Abtransport in ein Vernichtungslager, Deutschland zu verlassen, obwohl Freunde es ihm dringend rieten.

 

Ein Wunder ist's, Mama, daß wir aus dem Schlamassel herauskamen, und sicherlich ist es zum Teil deinem Reschel (: kluger Kopf ) zu verdanken, denn du allein hast dir ausgedacht, wie man Behörden und Nachbarn, Lehrer und Ärzte und wen sonst noch alles hinters Licht führt - aber eben nur zum Teil, darüber hinaus auch einer gesunden Portion Masel (: Glück). Ich höre schon, wie du fragst, die Handflächen in der den Juden eigenen Weise umwendend: »Was ist schon Masel, Walja?« Recht hast du, Mama, was ist schon Masel? Ich weiß es nicht. Aber wir überlebten. Und je mehr ich in meiner Erinnerung herumkrame, um so erstaunter bin ich darüber, daß Papa überlebt hat, daß ich noch lebe und daß Paula noch lebt. Und ich frage mich, ob es das wirklich gibt, daß in einem einzigen Leben so viele Zufälle Platz haben?

 

Kaiserhof Strasse 12
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